Gestaltpsychologie

Day and Night - MC Escher (1938)

Die Gestaltpsychologie war eine wichtige Strömung in der Psychologie, die besonders in den 1920er und 1930er Jahren ihren Höhepunkt hatte – es war der Vorgänger der kognitiven Psychologie. Sie wird oft als Frankfurter Schule oder Berliner Schule der Psychologie bezeichnet, da viele ihrer wichtigsten Denker*innen in diesen Städten arbeiteten.

Die Gestaltpsychologie untersucht vor allem, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen. Ziel ist nicht die isolierte Betrachtung einzelner Reize oder Objekte, sondern das Verständnis, wie unser Gehirn große Mengen an Informationen verarbeitet und daraus ein sinnvolles Ganzes bildet.

Die zentrale Annahme der Gestaltpsychologie lautet: Menschen nehmen Dinge nicht einfach so wahr, wie sie objektiv existieren. Stattdessen bringt unser Verstand Ordnung in die Eindrücke. Wir ergänzen, gruppieren und strukturieren das, was wir sehen oder hören, damit es für uns Sinn ergibt. Wahrnehmung ist daher ein aktiver Prozess, der im Gehirn abläuft und keine passive Repräsentation der Welt.

Viele der ursprünglichen Ideen der Gestaltpsychologie wurden von Max Wertheimer (1880–1943) formuliert. Er argumentierte, dass das Ganze mehr ist als nur die Summe seiner Teile. Zum Beispiel: Wenn wir Punkte auf einer Fläche so anordnen, dass sie eine Linie bilden, sehen wir eine Linie – obwohl es objektiv nur einzelne Punkte sind. Das Ganze – die Linie – besitzt Eigenschaften, die die einzelnen Punkte nicht haben.

Wertheimer beschrieb in seinen Arbeiten verschiedene Ordnungsprinzipien, die erklären, wie unser Gehirn aus Einzelteilen ein zusammenhängendes Ganzes bildet. Diese Prinzipien werden heute Gestaltgesetze genannt. Dazu gehören unter anderem:

·       Gesetz der Nähe: Dinge, die nahe beieinanderliegen, werden als zusammengehörig wahrgenommen (Diagramm A).

·       Gesetz der Ähnlichkeit: Elemente, die sich ähneln (z. B. in Farbe oder Form), werden als zusammengehörig gesehen (Diagramm B).

·       Gesetz der guten Gestalt (Prägnanz): Unser Gehirn bevorzugt einfache, regelmäßige, symmetrische Formen (Diagramm C).

·       Gesetz der Geschlossenheit: Unvollständige Figuren werden als vollständige Formen erkannt (Diagramm D).

Ein entscheidender Punkt ist, dass diese Prozesse automatisch und ohne unser bewusstes Nachdenken ablaufen. Wir müssen nicht bewusst entscheiden, was zusammengehört – unser Gehirn organisiert die Informationen automatisch.

Zusammengefasst wird die Grundidee der Gestaltpsychologie oft in dem Satz ausgedrückt:

„Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile.“

Das bedeutet: Wenn wir Einzelteile zusammenfügen, entsteht etwas Neues mit zusätzlichen Eigenschaften. Diese neuen Eigenschaften können nicht verstanden werden, wenn man nur die Einzelteile betrachtet.

Die Gestaltpsychologie hatte großen Einfluss auf viele Bereiche der Psychologie und auch auf andere Disziplinen wie Kunst, Design und Pädagogik. Es hat unser Verständnis davon, wie Menschen ihre Umgebung organisieren und strukturieren, maßgeblich beeinflusst.

Neben ihren zahlreichen Experimenten zur Wahrnehmung beschäftigten sich die Vertreter*innen der Gestaltpsychologie auch mit anderen wichtigen Themen der Psychologie. Sie forschten unter anderem zum Gedächtnis, zum Problemlöseverhalten, zur Motivation und zum Lernen. Dadurch zeigte sich, dass die Prinzipien der Gestaltpsychologie nicht nur für die Wahrnehmung, sondern auch für viele andere psychologische Prozesse bedeutend sind.

Weitere wichtige Gestaltpsycholog*innen der sogenannten Berliner Schule waren Wolfgang Köhler (1887–1967), Kurt Koffka(1886–1941) und Kurt Lewin (1890–1947).

Kurt Lewin entwickelte eine einflussreiche Theorie, die als Feldtheorie bekannt wurde. Mit dieser Theorie wollte er erklären, warum Menschen absichtliche und zielgerichtete Handlungen ausführen. Lewins zentrale Idee war:

Das Verhalten eines Menschen ist eine Funktion sowohl seiner Persönlichkeit als auch seiner Umwelt. Das bedeutet, dass Verhalten nicht nur von inneren Eigenschaften wie Bedürfnissen oder Wünschen abhängt, sondern auch stark von äußeren Bedingungen und Situationen beeinflusst wird.

Lewin dehnte die Gestaltidee auf soziale Zusammenhänge aus: In seiner sozialen Feldtheorie sah er Menschen eingebettet in ein Feld aus sozialen Kräften und Spannungen. Der Lebensraum eines Menschen umfasst nach Lewin alle Dinge, Ereignisse und Beziehungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt sein Verhalten beeinflussen.

Ein Beispiel für Lewins soziale Feldtheorie:

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Kurt Lewin gebeten, dabei zu helfen, amerikanische Familien dazu zu bewegen, mehr Innereien zu essen, um die Kriegsanstrengungen zu unterstützen.

Anstatt lediglich über den Nährwert dieser Lebensmittel aufzuklären (was ein eher reduktionistischer Ansatz gewesen wäre), wandte Lewin Prinzipien der Gestalt-Feldtheorie an:

• Er betrachtete die Entscheidungen der Menschen nicht als isolierte individuelle Handlungen, sondern als eingebettet in ein soziales Feld – die Normen, Erwartungen und Ziele der Gruppe bildeten ein dynamisches Ganzes, das das Verhalten beeinflusste.

• Lewin ging davon aus, dass Gruppendiskussionen den „Lebensraum“ der Einzelnen wirksamer umstrukturieren könnten als individuelle Belehrung. Anders gesagt: Wenn Menschen an Gruppengesprächen teilnehmen und gemeinsam eine Entscheidung treffen, verändert sich die gesamte Gestalt ihres sozialen Umfelds. Dadurch entstand eine neue Anordnung von Kräften, die neues Verhalten unterstützte (zum Beispiel den Verzehr von Innerenien).

• Der Einfluss der Gruppe wurde dabei nicht als bloße Summe einzelner Meinungen verstanden, sondern als eine qualitative Transformation des Feldes – ein klassischer Gedanke der Gestaltpsychologie, bei dem „das Ganze etwas anderes ist als die Summe seiner Teile“.

Lewin nannte diese einladenden Eigenschaften Aufforderungscharaktere oder auch Valenzen.

·       Positive Valenzen ziehen das Kind an (z. B. ein Spielzeug, das Freude verspricht).

·       Negative Valenzen stoßen ab (z. B. etwas Unangenehmes oder Gefährliches).

Welche Dinge als anziehend oder abstoßend erlebt werden, hängt von den momentanen Bedürfnissen der Person ab. Lewin betonte, dass der Lebensraum eines Menschen ständig in Veränderung ist. Oft muss eine Person negative Valenzen überwinden, um ein positives Ziel zu erreichen.

Lewins Feldtheorie wurde zu einem wichtigen theoretischen Rahmen für viele Bereiche der Psychologie, zum Beispiel:

· die Erforschung von Motivation und Handlung in der Pädagogik (Pädagogische Psychologie)

· die Behandlung psychischer Erkrankungen (Klinische Psychologie)

· die Verbesserung von Teamarbeit und Teamdynamik in Unternehmen (Organisationspsychologie)

Obwohl die Gestaltpsychologie viele bedeutende Beiträge zur Psychologie geleistet hat, gelang es ihren Vertreterinnen und Vertretern nicht, großen institutionellen Einfluss zu gewinnen. In Deutschland stand ihnen der sogenannte Elementarismus von Wilhelm Wundt entgegen, eine andere Richtung der Psychologie, die auf die Zerlegung von Bewusstsein in kleinste Teile setzte. In den USA, wohin viele Gestaltpsycholog*innen während der NS-Zeit emigrierten, trafen sie auf den damals sehr mächtigen Behaviorismus – eine Bewegung, die sich fast ausschließlich mit äußerlich beobachtbarem Verhalten beschäftigte und innere mentale Prozesse vernachlässigte.

 

Weitere Lektüre

Fitzek, H. (2010). Gestaltpsychologie. Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, 94-106.

Köhler, W. (1967). Gestalt psychology. Psychologische forschung, 31(1), XVIII-XXX.

Wagemans, J., Feldman, J., Gepshtein, S., Kimchi, R., Pomerantz, J. R., Van der Helm, P. A., & Van Leeuwen, C. (2012). A century of Gestalt psychology in visual perception: II. Conceptual and theoretical foundations. Psychological bulletin, 138(6), 1218. [PDF herunterladen]

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